Natur und Erziehung «geistesschwacher» Kinder im 19. und 20. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz
Intervention dans le panel Nature et handicap: entre essentialisation et «espace de liberté» / Natur und Behinderung: Zwischen Essentialisierung und «Freiheitsraum» [Panel #58]
Der Beitrag untersucht, welche Ausprägungen von Natur in den Debatten um Erziehung und Fürsorge «geistesschwacher» Kinder und in den Bildungsbemühungen für diese Kinder zu finden sind.
Ab der Wende zum 19. Jahrhundert wurden in der Psychiatrie und Pädagogik verschiedene Phänomene in den Blick genommen, die sich unter dem (Quellen-)Begriff «Geistesschwäche» subsumieren lassen. Ein frühes Phänomen war in der ersten Jahrhunderthälfte zunächst der «Cretinismus». Nach der Jahrhundertmitte rückte mit der «Idiotie» dann eine andere «Geistesschwäche» in den Fokus der Aufmerksamkeit. Mit Bezug auf diesen Oberbegriff etablierte sich eine dreigliedrige Klassifikation geistiger Schwäche. Unterschieden wurden die Schwergrade «Schwachbegabung», «Schwachsinnigkeit» und «Blödsinn». Für diese Klassifikation war die Frage der Bildbarkeit entscheidend. «Schwachbegabte» galten als voll, «Schwachsinnige» als vermindert bildungsfähig. «Blödsinnige» hingegen wurden als bildungsunfähig angesehen. Auf (schul-)
organisatorischer Ebene korrespondierten die drei Schweregrade mit verschiedenen Einrichtungen. «Schwachbegabte» Kinder sollten in Spezialklassen unterrichtet werden, «schwachsinnige» in Anstalten. Für «Blödsinnige» sollten Asyle eingerichtet werden, wo sie Nahrung und Pflege erhielten.
Im Zusammenhang mit der Klassifikation «geistesschwacher» Kinder stellen sich folgende Fragen, die der Beitrag beantworten will: Welche Vorstellungen einer spezifischen Natur dieser Kinder existierten im 19. und 20. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz? Wer war an der Aushandlung dieser Vorstellungen beteiligt und welche Kontexte waren dabei von Bedeutung? Inwiefern beeinflussten die Vorstellungen einer spezifischen Natur «geistesschwacher» Kindern die pädagogische Praxis und den Umgang mit diesen Kindern? Welche Rolle spielte die umgebende Natur für die verschiedenen Einrichtungsformen? Gab es weitere Dimensionen von Natur, die für die Erziehung «geistesschwacher» Kinder bedeutsam waren?