Tagungsthema: Die Natur

Die Covid-19-Pandemie, der Klimawandel und der dramatische Verfall der Artenvielfalt zwingen die Menschheit, ihr Verhältnis zur Natur zu überdenken. Der erst seit gut hunderttausend Jahren existierende Homo sapiens zerstört die vermeintlich «ewige» Natur in einer Weise, welche die Fundamente seines eigenen Daseins bedroht. Das kritische Studium der Beziehung zwischen Mensch und Natur, die seit der Antike ein grundlegendes philosophisches Begriffspaar bilden, stellt im Zeitalter des Anthropozäns eine entsprechend grosse Herausforderung für Historikerinnen und Historiker dar.

Dieses weite Feld ist jedoch erstaunlich wenig erforscht. Denn einerseits hat der cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften die Ausprägungen der Natur – Wälder, Wüsten, Ozeane, Gebirge, Flüsse, Boden, Gletscher, das Klima, die Tierarten und die Ressourcen, die sie bieten – weitgehend der Erforschung durch die Natur- und Umweltwissenschaften überlassen, wiewohl ihr Wandel stark vom Menschen beeinflusst ist. Andererseits haben die Naturwissenschaften kulturelle Einflüsse auf die Beziehung Mensch-Natur weniger in den Blick genommen als nötig. Es ist umso dringender, den Naturbegriff und seine Beziehung zum Menschen kritisch zu historisieren, denn seine Kontextualisierung verspricht, die gegenwärtigen «Umweltkrisen» besser zu verstehen und eine Annäherung zwischen dem menschlichen Bewusstsein und Verhalten der Natur gegenüber zu fördern.

Alle Gebiete des Faches sind eingeladen, Vorschläge für Beiträge einzureichen, welche die Art und Weise untersuchen, in der Menschen, Zivilisationen und Kulturen Natur verstanden, entdeckt, verändert oder geschützt haben: die Kunstgeschichte wie auch Wissenschafts- und Technikgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ebenso wie die politische Geschichte – und zwar unter Berücksichtigung lokaler, nationaler, internationaler und selbst globaler Perspektiven. Das Organisationskomitee der Geschichtstage 2022 und die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte laden hiermit alle Forscherinnen und Forscher herzlich ein, Vorschläge über dieses weite Thema einzureichen. Sechs Reflexionscluster, die sich nicht scharf voneinander abgrenzen, sollen dem wissenschaftlichen Austausch Struktur verleihen:

1) Repräsentationen: historische Semantik, Bild- und Transfergeschichte

Seit der Antike gibt es über Natur und den Naturbegriff eine reichhaltige Überlieferung geistiger Produktion. Mal stellt sie Natur als einzigartigen Bereich dar, von dem sich der Mensch distanziert, mal verortet sie im Gegenteil den Menschen in der Natur. Die symbolischen Konstruktionen von Natur verlangen nach Aufarbeitung der Begriffsgeschichte, der variierenden Repräsentationen und Bilder ebenso wie der Transfergeschichte zwischen Kulturräumen.

2) Mensch und Natur

Die Erforschung der Natur hängt von der menschlichen Entwicklung ab, denn ohne sie gäbe es keine Naturforschung. Doch der Mensch ist auch Teil der Natur, Teil einer Schnittmenge, in der sich Natur und Kultur begegnen. Der Dualismus lädt zur Frage nach der «menschlichen Natur» ebenso wie nach der – positiven oder destruktiven – Bedeutung «der Natur» für den Menschen ein.

3) Natur – Wissen

Im Angesicht einer mal nährenden, mal feindlich scheinenden Natur haben Menschen seit langem eine intensive wissenschaftliche Neugier an den Tag gelegt. Ein Ziel der aktuellen Forschung besteht darin, geistige und technische Revolutionen der Menschheit in der Geschichte der Wissenschaften und der kulturellen Entwicklung im weiteren Sinn zu verorten.

4) Interaktionen und Regulierungen der Beziehung Mensch-Natur

Wissenschaftlich-technischer Fortschritt hat die Ausbeutung von Grundstoffen in einem Masse gesteigert, dass nach dem grossen Überfluss Knappheit immer häufiger droht. Dieses Risiko provoziert Antworten – vom «Weiter so» bis zur «Regulierung», die regelmässig die technischen und intellektuellen Dispositionen der Akteurinnen und Akteure widerspiegeln. Folgerichtig erscheint das Studium der Versuche, Natur zu managen, zu beherrschen, zu zerstören, aber auch zu bewahren und zu schützen aus der Perspektive unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure lohnenswert.

5) Natur – Systeme (Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur)

Die Beobachtung der Natur hat viele gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure dazu gebracht, Vergleiche mit menschlichen Systemen anzustellen: So wurde und wird mitunter die Funktionsweise von Regierungen, Kulturen sowie Individuen mit – ganz unterschiedlichen, manchmal widersprüchlichen – Hinweisen auf die Natur «erklärt». Paradoxerweise verstärkt dieser Ansatz den schon in der Naturbetrachtung inhärenten Anthropozentrismus, der erst durch die Störung natürlicher Prozesse (durch den Menschen) in Frage gestellt wird. Naturvergleiche oder -analogien bilden jedenfalls für Gesellschafts-, Wirtschafts-, Politik- und Kulturhistorikerinnen und -historiker eine Folie für neue und erneuerte Fragestellungen.

6) Natur als Metapher

Der Glaube in unverrückbare Gesetze spiegelt sich im metaphorischen Gebrauch des aus dem Lateinischen abstammenden Naturbegriffs. Hergeleitet vom Verb nasci, «geboren», bezeichnet das Substantiv angeborene Eigenschaften eines Lebewesens, einer Sache oder eines Phänomens. Doch gehorchen die Geschichte, Gesellschaften und Individuen irgendwelchen Gesetzen? Die Metapher «Natur» wirft damit grundsätzliche Fragen auf, die kulturelle, soziale und ideologische Dimensionen enthalten.

 

Diese Überlegungen mögen als Anregungen dienen für die Debatte unter Historikerinnen und Historikern sowie für den Dialog zwischen Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und einem breiteren Publikum. Denn ein derartig aktuelles Thema dürfte dafür sorgen, dass die Geschichtstage nicht nur wieder ein Ort der Erneuerung des Faches werden, sondern auch die breitere Öffentlichkeit ansprechen.

Und schliesslich werden die Teilnehmenden durch die Untersuchung der Frage, wie sich vergangene Generationen einer mitunter grausamen Natur anpassten und sie sich zugleich zunutze machten, der Gegenwart einen Spiegel vorhalten. Darin mögen sie sich angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser erkennen.